Was hat ein Kartoffelsack mit Digitalisierung zu tun?

Es ist ein sonniger Morgen im Frühjahr 2000. Ich sitze in Hamburg im Büro einer grossen Versicherung, für die ich damals gearbeitet habe, als ein Geschäftspartner anruft. Ein Kunde baut eine 5-Millionen-Halle in Dänemark und benötigt dringend dafür eine Verlängerung des Versicherungsschutzes, der heute mittag abläuft.

Ich sage ihm das zu und frage ihn, wo ich die Bestätigung hinschicken soll. Er antwortet: „Brauchen Sie nicht, mir genügt Ihr Wort.“
Wow denke ich, 5 Millionen – wieviel Vertrauen und Verbindlichkeit in unserer Geschäftsbeziehung steckt … ich bin begeistert, dass es so etwas gibt und es fühlt sich gut an!

Wir drehen die Uhr nach vorne- in das Jahr 2023: ich sitze in meinem Büro und nehme als Gast an einem virtuellen Meeting von Führungskräften teil.
Knapp ein Drittel hat die Kamera ausgeschaltet, zwei kommen direkt zehn Minuten später – völlig geräuschlos – in die Veranstaltung, ebenfalls unsichtbar.

Das Meeting ist für zwei Stunden angesetzt. Im Chat lese ich, dass sich eine Führungskraft sich bereits vorzeitig verabschiedet (muss in ein weiteres Meeting). Als ich einige Zeit später auf die Teilnehmerzahl sehe, stelle ich fest, dass zwei weitere irgendwie „verschwunden“ sind.

Wie ist das eigentlich mit der Verbindlichkeit in einer modernen, digitalen Welt, frage ich mich.

Während die Menschen sich früher in die Augen sahen und Geschäfte mit einem Handschlag besiegelten – und das sogar am Telefon – , entsteht bei mir der Eindruck, dass sich heute immer mehr – ich nenne es mal: virtuelle Unverbindlichkeit breit macht.

Man kommt zu spät, manchmal gar nicht und selten zu früh. Die unsichtbare Teilnahme greift weiter um sich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass zu meiner Hamburger Zeit niemand auf die Idee gekommen wäre, sich in einer Besprechung einen Kartoffelsack über den Kopf zu ziehen, um unerkannt zu bleiben!

Die damalige Sichtbar- und Verbindlichkeit weicht mehr und mehr einer anonymen Unverbindlichkeit. So ist es denn auch bei der Einhaltung von Zusagen oder getroffenen Abgabeterminen nicht verwunderlich, dass wir vor allem erstmal eines hören – nämlich Nichts!

Eine interessante weitere Verbindlichkeitslücke tut sich auf, wenn wir das Verhalten aus unseren unterschiedlichen Rollen heraus nebeneinander stellen:

Während wir mit Blick auf die Kunden äusserst bemüht sind, Verantwortung zu übernehmen, Zusagen und Vereinbarungen einzuhalten (vor allem, wenn es sich um externe, also echte Kunden handelt und nicht die internen aus dem eigenen Unternehmen), sieht das deutlich anders aus, wenn wir selbst in der Kundenrolle stecken.

Plötzlich verschwinden die Tugenden in der Schreibtischschublade. Keine Reaktionen auf Nachrichten, zugesagte Rückmeldungen bleiben aus. Im Zweifel bilden die unerwarteten Fluten virtueller Arbeitsvorräte immer eine gute Ausrede. Gelebte Unverbindlichkeit greift um sich, Selbstverantwortung wird auf das notwendige Minimum reduziert.

Ich verabrede mich gerne mit meinen Coachees zum Essen  – Natürlich auch wegen Kulinarik. Aber in erster Linie, um zu sehen, wie meine Gäste als Kunden agieren. Wie sie mit dem Restaurantpersonal kommunizieren, mit dem Taxifahrer, mit der Garderobenfrau.

Daran erkenne ich, ob Werte wirklich aus Überzeugung als Teil des persönlichen Mindsets verinnerlicht sind und gelebt werden, oder eben nur als Mittel zum Zweck dienen.

Meine feste Überzeugung ist, dass Menschen sich in der digitalen Welt, der wir uns unweigerlich nähern, in der Veränderungen so schnell wie nie zuvor passieren und Volatilität und Unsicherheit zunehmen, nach Sicherheit sehnen und gerade zu auf der Suche nach Verbindlichkeit sein werden.

Und darin steckt unsere Chance: Echte Verbindlichkeit zu leben, um Vertrauen zu gewinnen! Das gelingt, in dem wir Verantwortung übernehmen für das was wir tun – oder auch für das, was wir nicht tun. Verbindlichkeit entsteht, wenn wir Entscheidungen treffen und diese auch klar und nachvollziehbar kommunizieren. Und wir unsere Vereinbarungen und Zusagen einhalten.
Kurzum: Wenn wir uns den Kartoffelsack vom Kopf reissen und sichtbar für alle anderen werden!

Wenn man sich auf uns verlassen kann, sind wir sind in der Lage, genauso wie bisher auch – nur eben per virtuellem Handschlag – Vertrauen aufzubauen. Dieses Vertrauen, das so dringend nötig ist im Miteinander und für eine erfolgreiche Transformation der Arbeitswelt.

Die neue Währung in einer digitalen Welt ist also Verbindlichkeit!

Sei im wahrsten Wortsinne verbind-lich, dann wird es Dir leicht fallen, mit anderen Menschen in Verbindung zu kommen. Denn wer un-verbind-lich ist, kann auch nicht verbunden sein!

Also los! Komm´als Führungskraft mit Dir und anderen in Verbindung, um Deine Mitmenschen nachhaltig zu begeistern! Die Zukunft hat gerade erst begonnen!